Kein Oder-Schutz aus Brandenburg und aus Polen – Wiederholung der Umweltkatastrophe von 2022 wahrscheinlich

Polnische und deutsche Umweltschützer und die Menschen, die beidseits des Flusses an, mit und von der Oder leben, sind entsetzt: Die Umweltkatastrophe, die sich im vergangenen Sommer in der Oder ereignete, droht sich in diesem Sommer zu wiederholen. Die Priorisierung wirtschaftlicher Interessen gegenüber jeglichen Schutzmassnahmen für die Oder verdammt den Fluss zu einem kümmerlichen Dasein als Schifffahrtsschnellstrasse und Abwasserkanal und verhindert seine Genesung hin zu einem lebendigen Ökosystem. Die Äusserungen der polnischen Umweltministerin Anna Moskwa, wiedergegeben in der Berliner Zeitung vom 14. Juni 2023,  demonstrieren deren Ignoranz gegenüber den Ursachen des Massensterbens vom Sommer 2022 auf erschreckende Art und Weise. 

Wir erinnern uns: Im vergangenen Sommer verendeten in der Oder Fische, Muscheln und andere Lebewesen tonnenweise. Nicht mal die Hälfte ihres Bestandes überlebte. Als Ursache für die schwere Schädigung des Lebensraums Oder wurde ein ganzer Ursachenkomplex identifiziert, dessen Einzelteile alle auf menschliches Handeln zurückzuführen waren. Als Erstes hatten Ausbaumaßnahmen des Flusses seine natürliche Widerstandsfähigkeit – heute wird oft von Resilienz gesprochen – gegenüber negativen äußeren Einflüssen reduziert. Außerdem war der Fluss auf bestimmten Abschnitten aufgestaut worden. Dann hatten die hohen Temperaturen und damit die Verdunstung des Wassers sowie niedrige Niederschläge die Wassermenge reduziert, so dass sich die Konzentration darin enthaltener Schadstoffe erhöhte. Diese Stoffe waren von der polnischen Industrie in Form von Salzen und Nährstoffen zuvor massenhaft in die Oder eingeleitet worden. Der Lebensraum Fluss war damit vom Menschen so verändert worden, dass eine Algenart die für sie idealen Lebensbedingungen vorfand und sich explosionsartig vermehren konnte. Die Stoffwechselprodukte der Alge wiederum vergifteten alles andere Leben in der Oder. 

Die vom Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei wenige Wochen nach der Katastrophe herausgegebenen Handlungsempfehlungen umfassten folglich eine sofortige Beendigung jeglicher Ausbaumaßnahmen der Oder, eine deutliche Reduzierung der Einleitung von Schadstoffen, eine Vermeidung von weiterer Aufheizung des Oderwassers durch dessen Nutzung als Kühlmittel sowie eine Renaturierung des Flusses. 

Wer nun hoffte, dass Teile des von den Wissenschaftlern empfohlenen Massnahmenkataloges innerhalb des vergangenen Jahres zumindest eingeleitet worden wären, wird durch die Äusserungen der Umweltministerin Polens schwer enttäuscht. Anna Moskwa nennt in ihrer Ursachenanalyse mit der Sonneneinstrahlung, dem Niedrigwasser und der Trockenheit nur Faktoren, auf die der Mensch – und damit auch die Polnische PiS-Regierung – kurzfristig keinen Einfluss hat. Ein mehrstufiges Überwachungssystem sei installiert worden, aber wenn erneut die Vergiftung aller Lebewesen drohen sollte, soll lediglich ein weiteres Gift in die Oder gekippt werden. Dieses Mal halt ein Gift, das die Goldalgen abtöten kann. 

Die Bundesumweltministerin Steffi Lemke zeigte im Unterschied zu ihrer polnischen Kollegin bei einer Oder-Konferenz am 06.06.2023 in Schwedt, dass ihr die Ursachen des Fischsterbens von 2022 sehr klar sind (Berliner Zeitung vom 06.06.2023). Sie übernahm als Forderungen an die polnische Seite im Prinzip den Massnahmenkatalog, den Wissenschaftler im vergangenen Jahr erarbeitet hatten. Die Hoffnung jedoch, dass der Oder nun auf deutscher Seite intensive Hilfe zuteil werden würde, erweist sich dennoch als unbegründet. Aktuell verklagen sieben Umweltschutzverbände das von einem grünen Minister geführte Brandenburger Umweltministerium wegen des Verstosses gegen Europäisches Umweltrecht. Laut Europäischer Wasserrahmenrichtlinie sollten nämlich von den Mitgliedsländern der EU Maßnahmen ergriffen worden sein, die die Gewässer bis zum Jahre 2027 in einen guten ökologischen Zustand versetzen würden. Der „Bewirtschaftungsplan Oder“ schiebt das Erreichen eines solchen guten ökologischen Zustandes jedoch auf das Jahr 2040, den der chemischen Inhaltsstoffe gar auf das Jahr 2045 hinaus. Als Ursache hierfür gibt das Ministerium fehlende Mittel und zu wenig Personal an. Man darf argwöhnen, dass beides, Mittel und Personal, benötigt werden, um Industriegroßprojekte auf deutscher Seite voranzutreiben, die dann die hiesigen Gewässer verseuchen werden.

Zu unserem Bedauern und auf Kosten des Ökosystems Oder müssen wir zusammenfassen: Der Ausbau des Flusses schreitet, anders als das Leibniz-Institut und die Bundesumweltministerin es sich wünschen, weiter voran. Die Einleitung von Salzen und anderen Schadstoffen wurde ebenfalls bisher nicht reduziert. Die Meteorologen prognostizieren auch für dieses Jahr überdurchschnittlich heisse Sommermonate. Regen ist nicht in Sicht. Wenn man Zyniker wäre, könnte man voraussagen, dass das Fischsterben in der Oder irgendwann zum Stillstand gekommen sein wird, weil sich deren Zahl nicht unendliche Male halbieren lässt, ohne schließlich bei Null angekommen zu sein.

Heidemarie Schroeder, Wassertafel Berlin-Brandenburg